Weder Geburtenknick noch Babyboom (2024)

Bisher hat die Pandemie zu keinem Babyboom in Deutschland geführt. Im Vergleich mit anderen Ländern gibt es aber interessante Unterschiede, wie das Demografiegespräch mit Olga Pötzsch (Destatis) und PD Dr.Martin Bujard vom BiB zeigte. So gab es in Deutschland 2020 im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA, Spanien oder Italien keinen deutlichen Geburtenrückgang.

Seit 2016 rückläufige Geburtenziffer in Deutschland

Der Blick auf die Geburtenentwicklung in Deutschland vor dem Jahr 2021 zeigt, dass die zusammengefasste Geburtenziffer nach einigen kurzen Anstiegen zwischen 2012 und 2016 bereits vier Jahre in Folge gesunken ist und im Jahr 2020 1,53 Kinder je Frau im Jahr betrug. „Die Hauptursache dafür war die gesunkene Fertilität der Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit“, sagte die Referentin der Abteilung „Demografische Analysen und Modellrechnungen, natürliche Bevölkerungsbewegungen“ im Statistischen Bundesamt, Olga Pötzsch. Im Zuge der starken Zuwanderung um 2015 kam es zu hohen Geburtenraten bei den zugewanderten Frauen. Mit der zunehmenden Aufenthaltsdauer in Deutschland nahm aber ihre Geburtenhäufigkeit ab, analysierte die Statistikerin. Dieser Rückgang fiel in Ostdeutschland mit 20 Prozent doppelt so stark wie in Westdeutschland aus. „Bei den deutschen Frauen nahm dagegen die Geburtenziffer zwischen 2016 und 2020 nur leicht ab.“

Ohne exogene Einflüsse durch die Corona-Pandemie wäre nach Einschätzung von Pötzsch bei nur geringen Änderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung zu erwarten, dass die Geburtenziffer im Jahr 2021 weiterhin auf dem Niveau von 1,5 Kindern je Frau stagnieren würde. Sollte es jedoch zu deutlichen Ausschlägen nach oben oder unten kommen, könnten diese durch die Pandemie verursacht worden sein.

Was sagen die vorläufigen Geburtenzahlen für 2021 aus?

Die vorläufigen Geburtenzahlen, das heißt die registrierten Geburtsmeldungen des jeweiligen Berichtsmonats, werden erst nach der Jahresaufbereitung im Folgejahr durch die endgültigen Monatswerte ersetzt. Damit ergeben sich naturgemäß Abweichungen zwischen den vorläufigen Geburtenzahlen nach dem Berichtsmonat und den endgültigen Ergebnissen nach dem Geburtsmonat. „Um mögliche Pandemieauswirkungen jedoch zeitnah identifizieren zu können, hat das Statistische Bundesamt für das laufende Jahr eine Sonderauswertung der monatlichen Einzeldaten nach dem Ereignismonat etabliert. Der Vorteil gegenüber den Angaben nach dem Berichtsmonat besteht darin, dass bereits im laufenden Jahr sukzessive eine bessere Annäherung an die endgültigen monatlichen Werte erreicht werden kann“, sagte die Statistikerin. Derzeit gibt es schon eine recht zuverlässige Datenbasis für die Monate Januar bis Mai, für den Juni und Juli sind die Geburtenzahlen noch untererfasst.

Der Vergleich mit dem Verlauf der Geburtenzahlen im Jahr 2020 zeigt für den Januar 2021 kaum Unterschiede, im Februar gab es einen geringfügigen Anstieg um 2,7 Prozent. „Das würde sich absolut im üblichen Schwankungsbereich bewegen, wenn nicht weitere Anstiege der Geburtenzahlen insbesondere im März und April 2021 stattgefunden hätten“, analysierte Pötzsch. Diese Geburten gehen auf die Schwangerschaften zurück, die in der Phase der Lockerung der Kontaktbeschränkungen nach dem ersten Lockdown begonnen haben. „Hier gibt es zumindest einen zeitlichen Zusammenhang, der weiter untersucht werden sollte.“

Deutlich mehr dritte und weitere Geburten

Das Geburtenplus war insbesondere auf die zweiten und weiteren Kinder der deutschen Mütter zurückzuführen. Im März und April stieg die Zahl der dritten und weiteren Kinder im Vergleich zum Vorjahresmonat besonders stark an. Die Gesamtverteilung der Geburten nach der Parität wurde allerdings durch diese monatlichen Ausschläge nur geringfügig beeinflusst, betonte die Statistikerin.

Geburtenanstieg im Westen, Rückgang im Osten

Beim Vergleich der vorläufigen Geburtenzahlen im ersten Halbjahr 2021 mit dem gleichen Zeitraum 2020 ergibt sich für Deutschland insgesamt eine Zunahme um 1,3 Prozent. In Westdeutschland zeichnet sich – entgegen des bisherigen Trends – ein Anstieg der Geburten ab, während sich in Ostdeutschland der zuvor beobachtete Rückgang fortsetzt. Inwieweit die Zunahme der Geburten in Westdeutschland eine Nebenfolge der Pandemie sein könnte, muss noch untersucht werden, betonte Pötzsch. Ausgehend von diesen vorläufigen Ergebnissen kann Deutschland insgesamt weder ein Geburtenknick noch ein Babyboom im 1. Halbjahr 2021 attestiert werden.

Rückgang der Geburtenzahlen in vielen Ländern – nur nicht in Deutschland

Wie sehr sich die Geburtenentwicklung während der Pandemie 2020 in Deutschland von der in anderen Ländern unterschied, machte BiB-Forschungsdirektor PDDr.Martin Bujard deutlich. Er wies darauf hin, dass es im internationalen Vergleich am Ende des Jahres 2020 zum Teil erhebliche Rückgänge der Geburtenzahlen in Ländern wie Frankreich (-7,5 Prozent) oder den USA (-6 bis -8 Prozent) im Vergleich zum Vorjahr gab. Ganz anders war die Lage dagegen in Finnland: „Hier ist die Geburtenrate im Februar 2021 um 10 Prozent erheblich angestiegen. Zugleich gab es dort zuvor auch keinen signifikanten Rückgang“, betonte er.

In Spanien gab es im November 2020 ähnlich wie auch in Italien einen sehr starken Geburtenrückgang um 10 Prozent und im Januar/Februar um 20 beziehungsweise 21 Prozent. „Solche monatlichen Rückgänge sind sehr auffällig und eigentlich extrem selten“, so der Wissenschaftler. Hier zeigten sich seiner Meinung nach Folgen der Pandemie für die Monate März und April 2020, als die Länder sehr unter den Auswirkungen gelitten haben.

In Mittelosteuropa und in Westeuropa waren die Rückgänge mit im Schnitt 5 bis 8 Prozent im Dezember/Januar auch deutlich, allerdings war Deutschland davon nicht betroffen. Dies gilt auch für die nordischen Länder wie zum Beispiel Finnland, Schweden oder Norwegen, in denen es dauerhaft keinen Rückgang der Geburtenzahlen gab.

Mechanismen, die das Fertilitätsverhalten in der Pandemie steuern

Die Folgen der Pandemie für die Geburtenentwicklung werden nach Dr. Bujard vor allem durch drei Mechanismen beeinflusst. Dazu gehören neben der ökonomischen Unsicherheit (etwa durch die starke Angst vor einem Arbeitsplatzverlust und allgemein unsicheren Perspektiven) auch gesundheitliche Sorgen (z. B. Angst vor Corona in Verbindung mit einer Schwangerschaft), die sich negativ auf die Umsetzung eines Kinderwunsches auswirken können. „Dieser Aspekt ist allerdings neu und seine Auswirkungen auf das Geburtenverhalten bisher kaum erforscht, da es bisher in der neueren Zeit noch nicht zu vergleichbaren pandemischen Ereignissen gekommen ist“, sagte er.

Es gibt aber noch einen dritten Mechanismus, der dagegen einen positiven Effekt haben kann, das sogenannte „Cocooning“. Darunter wird die intensive gemeinsame Zeit für die Partnerschaft verstanden, das heißt die Partner hatten im Lockdown ausgiebig Zeit, über ihren Kinderwunsch zu reden und sich intensiv damit zu befassen. Als direkte Folge kam es dann 9 Monate nach dem Ende des Lockdowns (Juni 2020) zu einer kurzen Phase des Geburtenanstiegs in Deutschland.

Darüber hinaus hat die ökonomische Abfederung durch die Ausweitung der Kurzarbeit dazu beigetragen, einen Geburteneinbruch zu verhindern. Zudem war die erste Welle der Pandemie in Deutschland weniger gravierend als in Südeuropa oder den USA, so dass sich die gesundheitlichen Sorgen letztlich nicht so stark ausgewirkt haben.

Corona beeinflusst konkrete Fertilitätsabsichten negativ

Wie sehr sich Corona auf die Geburtenentwicklung ausgewirkt hat, belegen differenzierte Mechanismen, wie etwa Survey-Analysen des BiB. „In unseren Survey-Befragungen sehen wir einen Anstieg der idealen Kinderzahl, bei den konkreten Fertilitätsintentionen zeigt sich aber ein Rückgang“, analysierte Dr.Bujard. Dies ist ein deutliches Zeichen für einen Geburtenaufschub. Zudem hat die Nachfrage nach Kinderwunschbehandlungen während der Pandemie im 2. Halbjahr 2020 deutlich zugenommen. Er warnte vor „Nullbefunden“, das heißt, wenn die Monatswerte der Geburtenzahlen nicht angestiegen sind, muss dies nicht bedeuten, dass es keine Effekte gab. Vielmehr können sich gegenläufige Effekte der einzelnen Mechanismen auch aufheben. Zu beachten ist auch, dass es für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auch zu unterschiedlichen Effekten kommen kann.

Insgesamt ist die Stellung Deutschlands im internationalen Vergleich insofern bemerkenswert, als es hier bisher keinen Geburtenrückgang gab, während manche Länder teilweise einen Rückgang um ein Fünftel erlebten. Die Ursache dafür ist nach Dr.Bujard in der Kombination von der Pandemiestärke und den eingeleiteten politischen Maßnahmen zu suchen, denn: „Je stärker die Pandemie und je geringer die sozial- und familienpolitische Absicherung, desto stärker der Geburteneinbruch ab Ende 2020.“ Wie sich die Zahlen nicht nur in Deutschland 2021 weiterentwickeln, hängt nicht zuletzt von der Entwicklung der Kinderwünsche und den Folgen der später einsetzenden zweiten und stärker verlaufenden Pandemiewelle Ende 2020 ab.

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